Vor 130 Jahren: Der erste Mensch wird gegen Tollwut geimpft
Am 6. Juli 1885 schrieben ein Bäckersohn und ein Chemiker Medizingeschichte: Weil Joseph Meister 14-mal von einem Hund gebissen wurde, wagte Louis Pasteur erstmals eine Impfung am Menschen.
Es ist fünf Uhr Früh am 4. Juli 1885, als der französische Bäcker Joseph Antoine Meister seinen ältesten Sohn weckt. Der neunjährige Joseph soll in den Nachbarort Maisonsgoutte gehen, um flüssige Hefe von einer Brauerei zu holen. Dort wird der Junge von dem Hund des Delikatessenhändlers Théodore Vonné angefallen. Der Schlosser eilt Meister zu Hilfe, doch der Hund hat bereits 14-mal zugebissen. Notdürftig werden die Wunden des Buben am Brunnen ausgewaschen. Am Rückweg, so schreibt der Historiker André Dubail in „Joseph Meister le premier être humain sauvé de la rage“, muss sich Meister mehrmals setzen, um sich auszuruhen. Als er gegen Abend im elsässischen Steige ankommt, bringen ihn die Eltern zu Eugène Weber. Der Arzt desinfiziert die Wunden mit Karbolsäure. Indes fällt der Hund weitere Personen an und wird von Gendarmen getötet. Vonné bringt den Kadaver zum Tierarzt, der in dessen Magen Heu, Stroh und Holzsplitter findet – damals ein sicheres Zeichen für Tollwut.
An dieser Stellen weichen die Überlieferungen voneinander ab: Die geläufige Variante lautet, dass der Arzt der Familie rät, in Paris den Chemiker Louis Pasteur aufzusuchen, der, so habe er in der Zeitung gelesen, im Tierversuch gute Erfolge mit einer Tollwutschutzimpfung errungen habe. In Dubails Version verfolgt hingegen Vonné das Gespräch dreier Herren, die sich über Pasteur unterhalten, sucht den Jungen auf und rät zur Reise in die Hauptstadt. Tatsache ist, dass sich Joseph und seine Mutter am 5. Juli per Zug nach Paris aufmachen. Nach mühsamen Fragen und etlichen Abweisungen erfahren sie, dass der 62-Jährige in der École Normale Supérieure in der Rue d’Ulm forscht.
Hund – Kaninchen – Mensch
Seit 1881 arbeitet Pasteur an seinem ersten humanmedizinischen Impfstoff. Laut Mikrobiologe Paul de Kruifs „Mikrobenjäger“ suchte er sich dafür Tollwut aus, weil er beobachtete, wie mehrere Personen von einem tollwütigen Wolf angefallen und deren Wunden anschließend „ausgebrannt“ wurden – ohne Garantie auf Überleben. Ein Anblick, den der damals Achtjährige wohl nie vergessen haben dürfte. Aus wissenschaftlicher Sicht schien die Krankheit zudem interessant, da es keinen sichtbaren Erreger gab (Viren waren noch nicht identifiziert), sie aber bei Menschen und Tieren vorkam.
Pasteur gewann Hirnsubstanz von einem an Tollwut verstorbenen Hund, die er zu einer sterilen Bouillon verarbeitete. Diese gab er einigen Kaninchen, die daraufhin an Tollwut starben. Bewiesen war damit, dass der Erreger nicht nur im Speichel, sondern vor allem im Hirn der Erkrankten vorkommt. Durch fortlaufende Übertragung von Kaninchen zu Kaninchen erlangte das Virus maximale Virulenz. Nun verabreichte der Forscher die Flüssigkeit einem Hund. Auch bei ihm trat nach 14 Tagen der Tod an Tollwut ein. Um den Erreger abzuschwächen, trocknete Pasteur Rückenmarksubstanz von infizierten Kaninchen zwei Wochen lang mit Kaliumhydroxid und verabreichte sie mehreren Hunden. Tags darauf bekamen sie eine 13 Tage lang getrocknete Marksubstanz, an den folgenden Tagen weitere Injektionen, die immer kürzer getrocknet worden waren. Am 14. Tag spritzte Pasteur den Tieren Rückenmark eines erst am Vortag getöteten Tieres, also von hochvirulenten Viren. Es geschah: nichts. Die Tiere waren immun geworden.
Mit seiner Entdeckung ging Pasteur an die Öffentlichkeit – verschwiegen allerdings wurde (und erst viel später durch Gerald L. Geison vom Historischen Institut der Universität Princeton in Pasteurs Labortagebüchern entdeckt), dass er sein Verfahren bereits an zwei erkrankten Patienten erprobt hatte, die Behandlung jedoch einmal abbrechen musste, das zweite Mal war die Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass er dem Mädchen nicht helfen konnte.
Vom Bäckersohn zum Pförtner
Am 6. Juli 1885 steht nun Joseph Meister vor Pasteur, der noch keine Symptome aufweist – in Medizinkreisen wird deshalb davon ausgegangen, dass der Junge sich gar nicht mit Tollwut infiziert hatte. Der Forscher ruft den Neurologen Edmé Félix Alfred Vulpian und den Kinderarzt Jacques-Joseph Grancher zu sich. Vulpian weigert sich, den Jungen zu behandeln, doch Grancher injiziert ihm Pasteurs Impfstoff. Darauf folgt eine Serie von 13 Injektionen, mit zunehmend frischerem Rückenmark. Laut Geison behauptet Pasteur während dem Prozedere, dass er den Impfstoff an 50 Hunden erprobt hätte und stets erfolgreich war. Doch die Labortagebücher belegen, dass die Experimente zu dieser Methode noch nicht abgeschlossen waren.
Um herauszufinden, ob der Junge durch die Impfungen tatsächlich gegen Tollwut immun wurde, verabreichte der Chemiker die letzten drei Impfungen auch einem Hund, der daraufhin stirbt. Meister aber überlebt. Damit war laut Friedrich Hofmann, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut, dreierlei bewiesen: „Der Erreger lässt sich durch die 14-tägige Trocknungsprozedur so weit abschwächen, dass er nicht mehr pathogen ist. Die Impfungen, die Joseph Meister erhielt, schützten vor dem Tollwuterreger. Die postexpositionelle Impfung ist in diesem Fall eindeutig wirksam.“
In der Folge avanciert Pasteur zum Helden. In den nächsten zwölf Monaten, so schreibt Hervé Bazin in „L’Histoire des vaccinations“, sollen rund 2500 von tollwütigen Tieren gebissene Patienten zu ihm gekommen und behandelt worden sein. Zudem geht eine Flut an Spenden ein, sodass der Forscher 1888 das „Institut Pasteur“ gründen kann.
Die Tollwut-Impfung ist aber nicht die einzige Errungenschaft Pasteurs. Schon zuvor hatte der Chemiker an den Salzen der Weinsäure die optische Isomerie entdeckt und so die Stereochemie und die Polarimetrie begründet. Um 1854 hatte er erkannt, dass der alkoholischen Gärung Mikroorganismen zugrunde liegen. Bald darauf stellte er fest, dass das kurzzeitige Erhitzen (unter anderem) von Milch zum Absterben jener Mikroorganismen führt, die für Verdorbenes verantwortlich sind – eine Entdeckung, die bis heute seinen Namen trägt: die Pasteurisierung. 1868 erlitt Pasteur einen Schlaganfall, der eine einseitige Lähmung zur Folge hatte. Er gab daraufhin seine Lehrtätigkeit auf, sein wissenschaftliches Engagement aber konnte das nicht bremsen. So entwickelte er ab 1881 Impfstoffe (neben Tollwut) gegen Geflügelcholera, Schweinerotlauf, Milzbrand. 1887 erleidet er einen zweiten Schlaganfall. Am 28. September 1895 stirbt Pasteur mit knapp 73 Jahren in Villeneuve-l’Etang bei Paris. Meister überlebt indes seinen Retter und wird 1913 am Pasteur-Institut Pförtner.
TOLLWUT
Ausgelöst wird Tollwut bei Menschen in der Regel durch das Rabiesvirus, die Übertragung erfolgt durch Bisse oder Hautkontakt. Die Inkubationszeit liegt zwischen 15 und 90 Tagen. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen von jährlich rund 55.000 Tollwut-Toten aus – 99 Prozent davon in Entwicklungsländern in Asien und Afrika. Weltweit werden pro Jahr mehr als 15 Millionen Menschen aufgrund des Verdachts einer Tollwutinfektion behandelt. Österreich wurde von der WHO und der Internationalen Tierseuchenorganisation am 28. September 2008 zum tollwutfreien Gebiet erklärt (siehe Karte unten).
Quelle: (DiePresse.com)